„Mittendrin statt außen vor – mein Handicap ist meine Stärke“
Kompetenzworkshop für Menschen mit Hörminderung, ihre Angehörigen und Interessierte, die Herausforderungen leichter meistern möchten
Referentin Jana Verheyen aus Hamburg (Dipl. Industrie-Designerin, Dipl. BWL; heute mit zwei Cochlea-Implantaten als Audio-Coach und Leiterin der Hörrehabilitation in der Ohrenklinik
Bensheim tätig)
Freitag, 3. September 2021, 15:30 Uhr bis 19 Uhr
Samstag, 4. September 2021, 9 Uhr bis 17:30 Uhr
Ort: Waldhotel Bad Jungbrunn
Anzahl der Teilnehmer*innen: 9-11, überwiegend aus der Selbsthilfegruppe „Besser hören leichter gemacht“ und deren Angehörige – also gut- und schlecht Hörende gemischt
Finanzierung aus Fördermitteln
Die Selbsthilfegruppe „Besser hören leichter gemacht“ beantragte mit den Fördermitteln der Sozialversicherung eine Weiterbildungsveranstaltung für Menschen mit eingeschränkter
Hörfähigkeit, deren Angehörigen und auch für Interessierte. Es standen € 2.000,00 für die Gestaltung und Abwicklung zur Verfügung. Die in Deutschland und in der Schweiz tätige
Referentin bot mit dem Titel „Mittendrin statt außen vor – mein Handicap ist meine Stärke“ wissenschaftlich fundierte und aus der eigenen Bewältigung einer hochgradigen Hörschwäche
heraus sehr interessante Seminarinhalte in Theorie und Praxis an.
Ob der Kompetenzworkshop tatsächlich abgehalten werden konnte, stand lange in Schwebe, weil vom 1. bis 7. September 2021 die deutschen Lokführer streikten und viele Bahnverbindungen,
auch nach Österreich, ausfielen. Jana Verheyen ließ sich nicht abhalten, bestieg am 2. September um 5:22 Uhr den ersten Fernzug in Hamburg und kam um 21:37 Uhr frohen Mutes in Lienz an.
Dafür dankten wir ihr sehr herzlich.
Ablauf und Inhalte
Bereits in der Kennenlernen-Runde stand der Workshop-Titel im Fokus. Die Teilnehmer*innen versuchten die Frage „Was kann ich Positives an meiner Hörminderung oder an der Hörminderung
meines Partners hervorheben?“ mit guten Gedanken und Aussagen zu verknüpfen. Die Referentin Jana kam im Zuge der Vorstellrunde gleich auf ein wichtiges Thema zu sprechen, und zwar auf die
Wichtigkeit der Trauerarbeit für alle Betroffenen und Angehörigen. Der Hörverlust ist nicht rückgängig zu machen, das gute Hören ist Vergangenheit. Die innerliche Verabschiedung vom
früheren Hörvermögen sowie das Eingestehen der laufenden Verschlechterung verlangt eine ständige Trauer- und Verlustarbeit.
Der Einstieg in das Thema „Eigene Stärken und Fähigkeiten erkennen“ wurde mit der Übung verbunden, für sich selbst zehn Fragen zu beantworten:
Was kann ich privat besonders gut?
Was schätzen Freunde, Bekannte oder Arbeitskollegen an mir als Mensch?
Was kann ich in der Familie besonders gut?
Was zeichnet mich beruflich aus?
Was macht mir in Beruf und Freizeit besonders Spaß?
Welche Fähigkeiten habe ich sonst noch?
Welche Fähigkeit habe ich meiner Hörminderung zu verdanken?
Was macht meine Persönlichkeit aus?
Wo sehe ich meine Stärken im Umgang mit
anderen Menschen?
Welche Fähigkeiten benötige ich für mein Hobby oder für mein Ehrenamt?
Dies bot eine Vertiefung in die eigene Wertschätzung.
Auch der zweite Workshop-Tag begann mit einer Übung, typische unglückliche Hörsituationen besser zu lösen. Beispielsweise, „freundlich lächeln, obwohl man nichts verstanden hat“ oder
„unglücklich am Buffet zu stehen, weil man im Feierlärm niemanden versteht“. Dabei ging es um die Fragen, was schwierig ist für wen, was eine Lösung sein könnte oder welche Fähigkeiten mir
dabei helfen könnten. In der Gruppenarbeit und anschließenden Reflexion wurden aus dem Leben gegriffene Lösungsvorschläge erarbeitet und präsentiert.
Im Behandeln von Bewältigungsstrategien wurden negative und positive gegenübergestellt. Das Ausklinken aus einem gesellschaftlichen Rahmen wegen der Hörschwäche kann positiv und
negativ sein. Es ist positiv, wenn es klar kommuniziert wird. Das Nicht-Hingehen zu Veranstaltungen, um unangenehme Hörsituationen zu vermeiden, wirkt sich negativ aus, wenn ich
doch gerne hingegangen wäre, zum Beispiel zum Tanzen. Wenig versprechend ist beispielsweise der Versuch, die Schuld für die mangelhafte Kommunikation bei den anderen zu suchen. Gut- und
Nichtgut-Hörende müssen im Gespräch aufeinander Rücksicht nehmen und von beiden Seiten Verständnis für die anstrengendere Kommunikation haben.
Die Übung, „eine Königin/ein König für sich zu sein“, lenkt von inneren Gefühlen der Hilflosigkeit gegenüber anderen ab und stärkt die Haltung sowie die Antriebskraft zu guten Lösungen. Man
stellt sich schulterbreit hin, richtet den Oberkörper auf, bewegt die Schultern nach hinten, öffnet die Arme und sagt zur Umgebung: „Ich bin eure Königin/euer König. Ich stehe vor Euch und habe
Gutes zu berichten …“
Die Workshop-Teilnehmer*innen lernten auch mit der Sprache achtsam umzugehen. Beispielsweise das Wort „nicht“ wegzulassen und dafür ein positives Ziel zu nennen, zu
fokussieren auf das, was ich möchte, und nicht darauf, was ich nicht möchte. Auch das oftmalige „Aber“ im zweiten Nachsatz kann durch ein „und gleichzeitig“ ersetzt werden.
Eine weitere Übung behandelte das Thema „Wie lauten die positiven Formulierungen, auf Augenhöhe, ohne Aber?“ Es waren typische Aussagen, die von hörbehinderten oder guthörenden
Gesprächspartnern kommen, mit positiver Wortwahl und Zielsetzung niederzuschreiben. Etwa, „Du hörst schon wieder nicht zu!“ könnte durch „Bitte konzentriere dich besser.“ ersetzt werden.
Oder, „Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass ich nicht gut höre. Aber du nimmst ja keine Rücksicht.“ könnte mit dem Satz „Bitte komm her, schau mich an und spreche langsam und
deutlich.“ die Grundregeln im Umgang mit hörgeschwächten Personen in Erinnerung rufen.
Die Übung „Wo stehe ich auf dem Weg zu meinem Ziel?“
bot den Teilnehmer*innen einen Ansporn, darüber nachzudenken, dass es nie zu spät ist, erfolgreich zu sein.
Die Fragen lauteten:
Wie lautet Dein Ziel?
Welches Bild verdeutlicht Dein Ziel?
Welchen Nutzen kannst Du selbst aus dem Erreichen des Ziels ziehen?
Worin besteht der Nutzen Deines Ziels für andere?
Was hast Du bisher getan, um das Ziel zu erreichen? Welche Personen haben Dir geholfen, zum jetzigen Standam Weg zum Ziel zu gelangen?
Was sind die nächsten Schritte und Teilziele?
Wer und was kann Dich unterstützen, das nächste Teilziel zu erreichen?
Was gibt Dir Zuversicht, das Teilziel zu erreichen?
Wen wirst Du über die Fortschritte informieren?
In dieser Übung wurde die Wichtigkeit im Leben hervorgehoben, nämlich sich bewusst zu sein, dass Ziele den Blick in die Zukunft richten, Mut und die Neugierde wecken.
Abschließend unternahmen die Teilnehmer*innen zu zweit oder zu dritt einen Spaziergang mit Übungen im Grünen rund um Bad Jungbrunn. Es gab zwei inhaltliche Schwerpunkte, die selbst
gewählt werden konnten. Einerseits konnte ein „Hörspaziergang“ gewählt werden. Dabei war auf die unterschiedlichsten Geräusche, Schritte, Gewand, Natur, Tiere, Witterung, Lärm usw., zu
achten und sie mit eigenen Wahrnehmungen zu beschreiben. Andererseits lauteten die Fragestellungen im „Spaziergang zu mir und meinen Stärken“: „Für welche Gaben und Geschenke
in meinem Leben kann ich danken und wie mache ich das?“ und „Wann spüre ich Momente, in denen ich mich selbst umarmen möchte – aus Freude, aus Liebe oder zum Trost?“. Die im
Gespräch miteinander geäußerten Blicke in das eigene Ich waren berührend und boten gleichzeitig Gelegenheit, die Persönlichkeit im Gegenüber besser kennenzulernen und das Vertrauen
zueinander zu stärken. Die Mitglieder der Selbsthilfegruppe sind in dieser Übung im gegenseitigen Verstehen und Vertrauensbilden stärker zusammengewachsen.
Ziel erreicht
Das Ziel des Workshops, und zwar die eigene Wertschätzung auch in schwierigen Situationen oder Zeiten im Auge zu behalten, wurde mit Informationen zu den Themen Bewältigungsstrategien und
Resilienz – die Fähigkeit, trotz schwieriger Umstände gut klarzukommen – gefestigt sowie in den zahlreichen praktischen Übungen untermauert. Im abschließenden Diskussions-Spaziergang
wurden alle mit bereichernden Antworten auf die großen existenziellen und spirituellen Fragen des Lebens belohnt.